14.10.2022

Rinderzunge

Samuel Herzog* Wir zögern beim Biss in die Rinderzunge, weil wir in demselben Moment spüren, dass auch unser eigenes Sprechen aus Fleisch entsteht und also sterblich ist.

Wir schmecken etwas, das selbst geschmeckt hat, das auch uns hätte schmecken können. (Foto: Nadine Strub )

Die Zunge ist ein Metaphern-Bomber, der über unserer Sprache kreist und uns immer wieder Gleichnisse in die Sätze schiesst. Es gibt kein anderes Organ, nicht einmal das Herz, das uns in einem ähnlichen Ausmass Bilder beschert – wer auch nur die aufzählen möchte, die ihm auf der Zunge brennen, dem hängt sie bald einmal aus dem Hals.

Dass wir uns – jenseits aller Metaphern – in die eigene Zunge beissen, kommt dann und wann vor. Eigentlich erstaunlich, dass es nicht öfter geschieht – schiebt sich das Organ doch andauernd zwischen unsere Zähne, als wolle es uns ein Stück voraus sein. Dazu passt auch, dass die Zunge manchmal vorschnellt, um Dinge zu sagen, die wir nicht sagen wollen – als hätte sie ihren eigenen Willen und Verstand. Also klemmen wir sie zwischen unseren Zähnen fest, was sich anfühlt, als kauten wir auf unserer Sprache herum. Dass Zunge und Sprache eins sein müssen, lehrt nicht nur das lateinische «lingua», man erfährt es auch beim Küssen, das ja nichts anderes ist als ein Gespräch ohne Worte.

Das Küssen wäre auch eine Gelegenheit, einem anderen Wesen in die Zunge zu beissen – was aber seltsamerweise so gut wie nie geschieht. Wenn wir in fremde Zungen beissen, dann sind es meist die von totem Rindvieh oder Lamm. Wenn diese Zunge in feinen Scheiben oder in Gelee vorliegt, dann bewegt sie in unserem Gemüt kaum mehr als ein Schinken. Ganz anders fühlt es sich an, wenn wir uns mit dem Küchenmesser an einer ganzen Rindszunge zu schaffen machen – oder uns etwa ein Stück von der feinbuckeligen Spitze in den Mund schieben. Fast erwarten wir, dass wir den Schnitt in der eigenen Zunge spüren – und staunen, dass wir den zart gekochten Muskel so schmerzfrei kauen können. Wir schmecken etwas, das selbst geschmeckt hat, das auch uns hätte schmecken können. Kein anderes Fleisch führt uns so nahe an das Gefühl heran, wir ässen ein Stück von uns selber.

Das hat auch damit zu tun, dass dem Schneiden und Essen von Zunge stets etwas Unerhörtes anhaftet – als sei da etwas zum Schweigen gebracht, als sei ein Wort unvernommen verhallt. Wir zögern beim Biss in die Rindszunge weil wir in demselben Moment spüren, dass auch unser eigenes Sprechen aus Fleisch entsteht und also sterblich ist. Die Sterblichkeit unseres Körpers ist das eine – der Biss in das zartfeuchte Fleisch einer Rindszunge aber beweist uns die Sterblichkeit unserer Sprache.

*Dieser Text von Samuel Herzog erschien am 16.03.2014 im Feuilleton der NZZ