20.05.2021

«Wir tragen unsere Tiere auf Händen»

Hansandrea Marugg berichtet, dass er und seine Familie ihre Tiere auf Händen tragen und keine Anstrengungen für ihr Wohl scheuen. Er setzt sich dafür ein, dass seine Tiere auch in Zukunft - trotz Wolfspräsenz - in den Genuss von Bergluft und Alpenkräutern kommen.

Die Gesundheit und das Gedeihen unserer Kälber haben für uns oberste Priorität. Da ist uns kein Aufwand zu viel. Wir tragen sie auf Händen oder auch Schulten, wenn es die Situation erfordert. (Foto: Hansandrea Marugg)

Vor zwei Jahren hat eine unserer Kühe, Wanja, auf der Alp Zwillinge geboren. Normalerweise wiegen unsere Kälber 40 bis 50 Kilogramm, wenn sie auf die Welt kommen. Die Zwillinge kamen ein bis zwei Wochen früher zur Welt als erwartet. Ein Kalb war fit und munter, das andere hingegen war klein und schwächlich. Es wog nur 20 bis 25 Kilogramm und machte auf uns keinen guten Eindruck. Wir hatten die Befürchtung, dass es ohne unsere Hilfe nicht überleben würde.

Wir legten Wanja einen Halfter an und ich habe sie von Hand gemolken. Mitten auf der Weide. Dass sich eine Mutterkuh melken lässt, ist an sich schon nicht selbstverständlich. Dass sie sich noch dazu so kurz nach der Geburt mitten auf einer Weide melken lässt, nur gehalten an einem Halfter, grenzt an ein Wunder. Für die Zwillinge, die wir Waleria und Wicky nannten, war es jedoch ein Segen. Beiden konnten wir je einen Liter Biestmilch, – das ist die erste Milch nach der Geburt, die für das Überleben und das Immunsystem so wichtig ist – , mit einer Flasche verabreichen.

Damian Marugg ist gerne bei den Mutterkühen und Kälbern auf der Alp. (Foto: Hansandrea Marugg)

Anschliessend überlegten wir, was zu tun war. Da wir die Geburt erst für später erwartet hatten, befand sich die Mutterkuhherde zu diesem Zeitpunkt an einem der abgelegensten Punkte der Alp, weit weg von der Alphütte. Das kleinere der beiden Kälber, Wicky, brauchte Aufmerksamkeit und Milch aus der Flasche – vier- bis fünfmal pro Tag. Der Alphirt hatte sonst schon genug zu tun. Dem konnten wir diese Zusatzarbeit nicht aufbürden. Noch dazu wo es in dieser Ecke der Alp keine Hütte gab.

Also haben wir beschlossen, Wicky mit ins Tal zu nehmen. Doch das ist gar nicht so einfach auf einer unwegsamen Alp. Kurzerhand hat mein Sohn Damian das Kalb auf seine Schultern genommen und ins Tal hinuntergetragen. Zuerst haben wir es auf dem üblichen Weg versucht. Doch hierzu mussten wir die Kuhherde durchqueren. Die Mutterkühe sind fast ausgeflippt, als wir mit dem muhenden Kalb auf den Schultern an ihnen vorbei wollten. Also haben wir entschieden, hinten an der Alp den Steilhang hinunterzulaufen.

Wir haben das Kälbchen zu einem Kollegen mit Milchkühen gebracht und dort unter einer Wärmelampe mit Milch aufgepäppelt. Mehrmals am Tag haben wir ihm die Flasche gegeben.

Der Alphirt hat sich unterdessen weiter um die Herde gekümmert, auch um Wanja mit Waleria, dem grösseren der Zwillinge. Walerie lief gut mit der Kuh mit und trank auch selbständig bei der Mutter.

Ein paar Tage später haben wir dann die Mutter zusammen mit Waleria nach Hause geholt. Sie war munter und gesund. Erstaunlicherweise hat Wanja ihr zweites Kalb, trotz der Zeit, die sie getrennt waren, problemlos wieder akzeptiert und die beiden Zwillinge konnten fortan beide bei der Mutter sein und am Euter trinken. Die Zwillinge wuchsen und gediehen prächtig.


Auf unserer Alp waren immer Kühe, die im Sommer den Geburtstermin hatten. Für den Zeitraum der Geburten war die Herde jeweils auf einer Weide in der Nähe der Hütte, so dass der Hirt die Tiere gut überwachen und bei Problemen helfen konnte.

Seit letztem Jahr gebe ich jedoch keine hochträchtigen Kühe mehr auf diese Alp – wegen den Wölfen. Ich nehme sie auf eine Alpweide auf der Präzer Alp, die ich von zu Hause in zehn Minuten erreichen kann. Wir richten die Abkalbeweiden immer noch besser ein, um die Tiere vor den Grossraubtieren zu schützen.

Die Mutterkuhherde von Hansandrea Marugg auf der Alpweide. (Foto: Hansandrea Marugg)

Ich bin sicher, wenn ein Wolf den kleineren der beiden Zwillinge vor uns gefunden hätte, hätte dieser nicht überlebt. Für uns war es ein Segen, dass die Mutter der Zwillinge so zutraulich war, sich problemlos melken liess und uns an die Kälber heranliess. Gegenüber dem Wolf wäre ihr diese Zahmheit zum Verhängnis geworden, da sie ihre Kälber nicht verteidigt hätte. 

Hier besteht ein Widerspruch und eine grosse Herausforderung für das zukünftige Zusammenleben mit dem Wolf: Wir wünschen uns zutrauliche, gutmütige Mutterkühe, die weder den Bauern noch irgendwelche Wanderer angreifen, um ihre Kälber zu verteidigen. Gleichzeitig erwarten wir, dass sie sich und ihre Kälber gegenüber dem Wolf verteidigen. Und wir möchten, dass Wandertouristen weiterhin unbeschwert in den Alpen über die Weiden spazieren können. Dieses Miteinander wird nur funktionieren, wenn das gegenseitige Verständnis da ist und die Regeln und Warnhinweise von allen eingehalten und beachtet werden.

Hansandrea Marugg, Mutterkuhhalter in Präz und Vorstandsmitglied von Mutterkuh Schweiz

Eine Mutterkuh mit ihrem frischgeborenen Kälbchen. Eine Weidegeburt ist das natürlichste auf der Welt. Doch es ist wichtig, dass Mutterkühe auf geschützten Weiden abkalben und überwacht werden, um sie vor Wolfsangriffen zu schützen und den Kontakt mit Wanderern zu vermeiden. (Foto: Hansandrea Marugg)